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AutorenbildFreed Hartmann

Freie Klangterritorien – realisiert mit "hypersound touchpoints"

Aktualisiert: 2. Aug. 2022

Was ist ein Klangterritorium? Wann ist es okkupiert, wann ist es frei?

Parallelen sind immer riskant, zumal sie hyperschnell zu romantisch-verbrämten Ideologien verkommen können. Dennoch habe ich mich – zum Zwecke besserer Verständlichkeit und angesichts der sehr begrenzten Zeit der Mitlesenden – entschieden, hier einmal das Risiko einzugehen und Klänge als Individuen zu betrachten, die in bestimmten Territorien „leben“.


Diese Territorien zeichnen sich durch eine gewisse Kohärenz der Eigenschaften der Klänge aus. So ist z.B. ein riesiges Klangterritorium das des Klavierklanges, und innerhalb dessen gibt es z.B. wiederum eines, wo nur schwar­ze Tasten vorkommen: die Musikversierten unter euch wissen, dass es sich dabei um ein pentatonisches Territorium handelt, wo es nur fünf verschiedene Töne gibt, wie in China. Ein anderes Territorium kann die Klänge einer Rockband umschlieszen, und wieder ein anderes eine Sammlung von Sinustönen, die sich zu einem rein elektronischen Stück verbunden haben und dabei bei geschickter Synthese in unserem Vorstellungsvermögen sogar Glas- und Glockenklänge hervorzurufen in der Lage sind.


Wenn wir dann aber danach fragen, wie die Klänge da in den so verschiedenen Territorien eigentlich leben, finden wir ganz unterschiedliche Lebensformen. Zum Beispiel die


Klanganarchie

Hier hören die Klänge kaum aufeinander. Sie sind sich selbst am Nächsten – totale Egoisten – denn sie beanspruchen alleinige Aufmerk­samkeit und nehmen jeden Moment nur für sich in Anspruch. Stockhausen hat da ganz treffend von der „Momentform“ gesprochen. Nur der Augenblick zählt. (Wirklich?)


Dann haben wir das Klangterritorium der


Klangdiktatur

Das klingt grausam. Muss es aber nicht: Wenn wir auf die Tanzfläche wollen, macht sich der tyrannische Druck der immergleichen Klangfolgen eigentlich ganz gut. Aber es ist schon wahr: Als reine Musikwahrnehmung kann es schon ein bisschen langweilig werden, wenn alle Klangeinwohner sich immer wieder wegducken und brav nach einer Pfeife tanzen. Nichtsdestotrotz gibt es auch ganz interessante Hörerfahrungen, wo sich die starren Muster ganz langsam verändern.


Kommen wir zur dritten Kategorie eines Klangterritoriums – ihr habt es sicher schon erraten – das der


Klangdemokratie

Diese zeichnet sich dadurch aus, dass, basierend auf garantierter Redefreiheit und einer kultivierten Form des Zuhörens, Klangdialoge entstehen, die recht interessante Verläufe annehmen können, abhängig davon, was ein jeder Klang so zu sagen hat und welche der anderen Klänge in der Lage sind, auf seine ursprüngliche Verlautbarung einzugehen und in vorzugsweise konstruktiver und wertsteigender Weise darauf zu reagieren.


Was sind nun aber freie Klangterritorien?

Sind die Anarchisten unter den Klängen nicht die Freiesten? Ich behaupte mal, nein. Isolation befreit nicht wirklich, dagegen könnte aber der Dialog ganz besondere Entfaltungsmöglichkeiten bieten. Er könnte den Klängen erlauben, sich durch ein gegenseitiges Kennen­lernen weiterzuentwickeln, weiter zu wachsen oder sogar zu neuen Wesen zu transformieren.


Wenn der Dialog derartig wichtig ist, dann muss Freiheit zu einem nicht unwesent­lichen Teil Redefreiheit bedeuten, und Klangterritorien, die für das Kultivieren von Klangdialogen weniger hilfreich sind und diese eher beschneiden, könnten dann als weniger frei gelten.


Welche Art von


Klangredebeschränkungen

aber könnte es zum Beispiel geben?

  1. Ein Klang sitzt in der Falle eines Klangerzeugungssystems. Er darf nur frequenz­modulieren, obwohl er nach seiner neunzehnten Einstellung anstelle der zwanzigsten, die plötzlich einen Basston produziert, lieber etwas ganz anderes ihm viel näher Liegendes sagen möchte. Aber die Physik seines Sprech­appa­rates erlaubt das nicht und im Ergebnis erscheint der nächste Schritt mit einer eher fremdklingen­den Variation (technische Limitation).

  2. Ein anderer Klang sitzt in der Falle einer Zwölftonreihe. Er hätte gern auf seinen Kollegen mit einem anderen Ton geantwortet, aber dieser andere Ton ist noch nicht dran. Am Antworten selbst wird er natürlich nicht gehindert (konzep­tionelle Limitation).

  3. Ein dritter Klang folgt dem sozialen Druck seiner Mitbürger. Wenn jeder sich so äuszert, dann reagiere ich halt auch so. Und schwupps landen wir in einem „besetzten“ Territorium, dessen Pfade schon oft von anderen gegangen und markiert wurden, sei es in bestimmter Stilmanier oder als konkreter autorisierter musikalischer Verlauf, der vielleicht sogar noch unter Copyright steht (Limitation durch mechanisches Befolgen bereits gegangener Wege).

  4. Ein vierter Klang befindet sich in Ungarn und hört seine Verwandten nicht, die sich gerade in London aufhalten, oder in Deutschland soeben verklungen sind. Dabei wäre es heute so einfach, sich gegenseitig zu besuchen (Limitation durch zeitliche und örtliche Differenzen).

Und was könnte gegen diese Art von Redebeschränkungen getan werden?


Hier kommt die Idee des


Hypersound

ins Spiel.


Hypertext kennt jeder. Wir lesen einen Artikel im Internet und stoszen auf ein Wort mit einem Unterstrich, der beim Anklicken zu einem weiteren Artikel leitet.

Quelle: Wikipedia.de


Es bleibt uns dann überlassen, diesen Link weiterzuverfolgen oder ihn zu ignorieren und erst mal weiterzulesen, oder diesen Link zu verfolgen und den ursprünglichen Artikel gar nicht mehr weiterzulesen usw. Und nach dem Auslösen jeder Menge von Ver­knüpfun­gen haben wir dann eine ganz individuelle Reise durch ein bestimmtes inhaltliches Territorium zurückgelegt oder dabei sogar einige Territorien über­schrit­ten.


Was hat nun Hypertext mit Hypersound zu tun?

Ganz einfach. Anstelle eines Artikels hören wir einfach einen musikalischen Text, der von bestimmten Klanggestaltenden oder -komponierenden verfasst wurde. An einer bestimmten Stelle dieses Klangtextes gibt es dann einen Klang, der Asso­ziationen zu einem Klang mit ähnlichen Eigenschaften in einem anderen musika­lischen Text, der möglicherweise von anderen Klangschaffenden stammt, besitzt.

Drei Soundtracks mit verschiedenen übergreifenden klanglichen Beziehungen (symbolisch)


An genau dieser Stelle entsteht dann eine inhaltliche Verzweigung wie in einem Hypertext. Entweder wir ignorieren diese Verzweigung und hören dem ursprüng­lichen Vortrag weiter zu, oder wir begeben uns auf den neuen Klangstrom und hören erst mal dort hin, bis ein neuer Hypersound-Link auftaucht, wo eine neue Entscheidung ansteht, usw. Auf diese Weise kann eine ganz individuelle Klangreise entstehen, bei der die Zuhörenden, je nach vorhandenem Klangterritorium, den Ton vorgeben.

Da es sich jedoch um Musik handelt, die kommuniziert werden soll, gibt es einige wichtige Unterschiede beim Sprung zwischen den verschiedenen musikalischen „Artikeln“:

  1. Wenn der neue Klangstrom anhebt, wird der alte oftmals nur allmählich verklingen und nicht plötzlich weggeschaltet. In manchen Fällen kann der alte Track sogar noch als Hintergrund mitklingen, so wie vielleicht das vorher Gele­sene bei einem neuen Artikel manchmal noch im Gedächtnis „nachklingt“.

  2. Zwei Klangströme mögen viele gemeinsame assoziierte Klänge enthalten, so dass an verschiedenen Stellen kontinuierlich zwischen ihnen hin- und herge­sprungen werden kann. Dabei können überraschend neue Klangdialoge entstehen. Verschiedene Texte würden wir so eher nicht überkreuz lesen.

  3. Da die “Lesegeschwindigkeit” im Gegensatz zu geschriebenen Texten beim Zuhören als „Hörgeschwindigkeit“ bei allen Zuhörenden gleich ist, können wir bei einem solchen Hypersound-Trip nicht nur gemeinsam zuhören, sondern auch gemeinsam entscheiden, mit welchen der Hypersound-Verknüpfungen die Reise jeweils weitergehen soll. Und das geht sogar über das Internet verteilt, wo das Endresultat an allen Enden von mehreren weit voneinader entfernten Mitwirkenden gestaltet werden kann und in derselben Weise für alle hörbar wird.

Was hat das alles nun eigentlich mit der Freiheit der Klänge zu tun?
  1. Der freie Austausch von Klängen, die verschiedenen Territorien entstammen, führt zu neuen virtuellen Klangterritorien, in denen die Klänge freier interagieren als sie das in ihrem angestammten Territorium können.

  2. Die Hypersound-Berührungspunkte (touchpoints) basieren auf Klangassozia­tionen, also den unmittelbar hörbaren Eigenschaften der Klänge unabhängig von ihrer Entstehungsgeschichte. Es fügt sich zusammen, was zusammengehört oder noch besser, in wertgenerierender musikalischer Art zusammen-gehört werden kann. Beispiel: Wenn beim Fensterwischen so etwas wie eine Tierstimme entsteht, dann ist die Tierstimme als Klang wichtig und nicht die Fensterscheibe!

  3. Die Autorenschaft von professionellen Klangströmen und die quasi kuratorisch implementierten Hypersound-Verbindungen erlauben eine höhere Zugänglich­keit, einen einfacheren, freieren Zugriff auf die Klänge, gerade auch für Nicht­profis.

  4. Mit der Unterstützung durch Fernsteuerungssoftware können Menschen an verschiedenen Orten gemeinsam eine Hypersound-Klangreise unternehmen, auch wenn ich sehr hoffe, dass dafür nicht eine nächste Coronawelle nötig sein wird.

Beispielkonfiguration (symbolisch)


Die aktuelle Hypersound-Implementierung

die in diesem Artikel vorgestellt wird, soll die Idee vermitteln und als Inspiration dienen, sowohl konzeptionell als auch technisch.

Klicken auf Bild öffnet das Projekt


Dennoch können bereits heute mit den hier gezeigten Mitteln, alle, die daran interessiert sind, eine eigene Hypersound-Welt aufbauen, oder an einer schon vorhandenen teilnehmen oder weiterbauen.


Es gibt es einen Link, der frei zugänglich ist und zur eigenen Erforschung des gegebenen Klangterritoriums einlädt:



Auf der Webseite finden wir dann auch eine technische Beschreibung (siehe Help), wie andere zum Mitspiel eingeladen werden oder sogar eigene Hypersound-Territorien aufgebaut werden können. Heinz-Josef Florian und ich selbst bieten dabei auch gern unsere direkte Unterstützung mit an – einfach diesen Artikel kommentieren oder sich auf unserer Facebook Musikgruppe melden.


Die Spielregeln

die für die Klangagierenden gelten, können in jedem Hypersound-Projekt andere sein. Für unser Beispiel heute funktionieren sie wie folgt:

  1. Jedem der Mitspielenden wird eine Farbe zugewiesen. Es stehen 4 Farben zur Verfügung: blau, grün, gelb und rot.

  2. Es werden nur hervorgehobene touchpoints aufgerufen. Normalerweise nur von einer Farbe. So sehen wir immer, wer den nächsten Schritt unternimmt. Da es oft mehrere touchpoints von einer Farbe gibt, können sich die Mitwirkenden, die den Track schon etwas kennen, bewusst zwischen den Alternativen entscheiden. Auszer­dem bestimmen sie den genauen Zeitpunkt der Änderung, was das Klangergebnis ebenso stark beeinflussen kann – schlieszlich strömt jeder Klangtrack in der Zwischenzeit unaufhörlich weiter.

  3. In diesem Modell gibt es einige sehr schlaue touchpoints, die zum Wechseln der Klangströme beitragen und damit einen vorbereiteten Gesamtverlauf realisie­ren. Somit haben wir so etwas wie eine vorkomponierte Form, die jedoch jedes Mal dank der oben beschriebenen klanglichen Freiheiten wieder anders durch­laufen wird. Wenn man so will, haben wir es hier mit einer „verrauschten“ Form zu tun, im Zwischenfeld zwischen live-Komposition, -Interpretation und -Impro­visation.

Mehrfachwege in einer typischen hypersound-Umgebung (symbolisch)


Viel Spasz beim Soundtrip mit den "hypersound touchpoints"!



Mehr über dieses Thema

Credits der im Artikel verwendeten Klangbeispiele in der Reihenfolge ihres Auftretens (Quelle: YouTube)

Credits der im Projekt verwendeten Soundtracks

  • Javier Garavaglia: Klangmaterial von "Miniaturstück I, acousmatic music" (2010)

  • Heinz-Josef Florian: Klangmaterial vom Hypersoundproject "Sound Prints" (2012), "The Bad Wolf" (2012) und "Eurydikes Cry" (2012)

  • Freed: Klangmaterial von "Revolution 9" (electronic piece) vom "Album for the Youth" basiend auf dem Freesound.org-Beitrag (CC-Lizenz) von Tim Kahn alias Corsica und von "Bell Story'' (2013) basiend auf Freesound.org-Beiträgen (CC-Lizenz) von Freed, UncleSigmund, LG, zuben, Leady, ERH, daveincamas, striptheband

  • Balázs Kovács: Klangmaterial von "Struktur" (2017)

  • Igal Myrtenbaum: Klangmaterial vom Hypersoundproject "The Bad Wolf'' (2012)

  • Thomas Neuhaus: Klangmaterial von "5 Kleine Stücke über die kleinen Laute eines kleinen Menschen" (1997, 2-Kanalaudio) und "The Bad Boys were Prodding the Bear through the Bars of the Cage" (1985, 4-Kanaltonband)

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